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Purrmann

Das "absolute" Gesicht – Hans Purrmann (1880 – 1966)

 

Erinnerungen an den Maler Hans Purrmann in Montagnola 1962

von Alto Hien

(erschienen in der FAZ am 7. Mai 1966 zum Tod von Hans Purrmann)

 

Taufrisch duften die Mimosen aus den Gärten und über feuchtdunklen Hügeln leuchtet der Monte Rosa. Ich war früh aufgestanden; doch als ich an der “Casa Camuzzi” läutete, wartete Purrmann, schon ungeduldig im Rollstuhl sitzend, auf mich. Sein “guten Morgen” aber klang wohl gelaunt. Signorina Tilda hatte ihn sorgsam in Decken gewickelt und ihm eine Mütze über den Kopf gezogen, damit er sich auf dem Weg ins Atelier nicht erkälte.

Vorsichtig schob ich ihn durch den dunklen Flur ins Freie. Durch ein Tor kamen wir auf den abschüssigen Weg, der zum Atelier führt. Sobald man auf den Weg tritt, öffnet sich eine wunderbare Fernsicht. Hier musste ich immer ein wenig halt machen. Weit unter uns schimmerte der Luganersee, der Frühnebel ließ den Monte San Salvatore leicht über dem Wasser schweben, die Felder vorne rochen nach frischem Erdreich. Ein Weilchen saß Purrmann ganz still. Nur seine Nasenflügel bewegten sich auf und ab, er schnupperte die köstliche Morgenluft. Seine schmalen Äuglein aber blitzten unter der Mütze hervor und schienen Himmel und Berge, See und Felder einzusaugen. Er seufzte tief, – für mich das Zeichen zum Aufbruch. Noch wenige Meter und wir waren im Atelier.

Während ich ihn zu seinem Platz am Fenster schob und die Bremsen am Rollstuhl arretierte, sagte er: “Gehn's emal rieber in den Abstellraum, da steht im Regal ganz hinten ein ganz kleines Bild, das ich vor 25 Jahren gemalt hab. Es ist eine italienische Landschaft mit einem Bauernhaus drauf. Des ist mir heut Nacht wieder eingefallen und ich muss es jetzt unbedingt umändern.” Ich wunderte mich, dass ich das Bild an dem beschriebenen Platz vorfand. Noch mehr wunderte ich mich aber, als ich das fertig gerahmte Bild auf die Staffelei stellte. Ich konnte beim besten Willen nichts entdecken, was einer Korrektur bedurft hätte. Als Purrmann das Bild sah, nickte er nur, verlangte nach Palette und Pinseln und begann zu malen. Unterdessen regulierte ich noch den Ofen und goss den Gummibaum. Dann setzte ich mich schnell auf meinen Platz hinter ihm. Inzwischen hatte Purrmann schon den Vordergrund des Bildes mit Kobaltblau und Violett in tiefen Schatten gelegt: “Sehn's” – sagte er, – “wie jetzt der Mittelgrund zu leuchten anfängt! Und wie der Himmel dadurch kraftlos geworden ist. Den muss ich jetzt wieder rausholen. Das ist wie bei einer Waage: werfe ich in die eine Waagschale ein Gewicht, so muss ich's in die andere auch tun.” Und schon machte er sich daran: er hob die Wolken mit einem kräftigen Kontur in chromoxydgrün, eine sogar in hellrot hervor. Da und dort lasierte er ein Kobaltblau, das dem Himmel sowohl Tiefe gab, zugleich aber in wunderbarem Austausch stand zu den Schatten vorne und den in lichtem Ocker und Neapelgelb strahlenden Bauernhaus im Mittel-Grund. Es floss nun so eine Art “optischer Wechselstrom” zwischen den Bildelementen hin und her. “Wenn Sie bei einem Bild partout nicht mehr weiterkommen” – meinte Purrmann – “dann stellen Sie's zwei Jahre auf die Seite. Wissen's dann noch nicht weiter, dann ist entweder das Bild schlecht, oder Sie sind ein schlechter Maler.” Am Abend war Purrmann mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Das Bild hatte er 1938 in Siena gemalt. 1962 konnte man es in der Überarbeitung in der großen Münchener Purrmannausstellung im Haus der Kunst sehen. Im Katalog ist es unter Nr. 32 abgebildet.

Montagnola liegt auf einem Hügelrücken, hoch über dem Luganersee. Es ist ein kleines und bescheidenes Dorf und wäre wohl nie zu Ruhm gelangt, hätten nicht Hermann Hese und Hans Purrmann dort gelebt und gewirkt; denn außer einigen winkeligen, dunkeln Gässchen, einigen herrschaftlichen Villen in schönen Gärten und wenigen neueren Landhäusern bietet es dem Besucher nur einen weiten Ausblick auf den See und die Berge.

Einst wohnte Hermann Hesse in der Casa Camuzzi. In “Klingsors letzter Sommer” beschreibt er dieses kleine Prachtungetüm, wie es mit Giebelchen und Türmlein, mit Gesimsen und Balustraden aus dem üppig grünenden Garten emporwächst.

Purrmann war 1944 aus Florenz in das Tessin geflüchtet, nachdem er mit knapper Not den Nachstellungen der Gestapo entgangen war. Jetzt bewohnt er das Haus – und Signorina Tilda, eine resolute, stämmige, aber weichherzige Italienerin, sorgt für ihn mit viel Liebe und Wärme als Krankenschwester, Köchin und Hausfrau. Weil die Wohnung zum Malen zu dunkel und ungeeignet ist, hat sich Purrmann – 70 Schritte vom Haus entfernt – ein eigenes Atelier bauen lassen. Es ist schlicht und geräumig, hat ein großes Fenster nach Osten und einen Abstellraum für Bilder, Werkzeug und Malbedarf.

Ich selbst hatte mich im Dorf bei Herrn Conditor und Zuckerbäcker Maag eingemietet und führte dort meinen eigenen, bescheidenen Haushalt. Die Kosten für Wohnung, Essen und Aufenthalt bestritt ich von meinem reichlichen Gehalt, das mir Signora Tilda monatlich auszahlte.

Während meines Aufenthalts hat Purrmann – u. a. – drei Portraits gemalt. Solche Portraitsitzungen waren immer sehr aufregend, weil Purrmann dabei Äußerst empfindlich ist. Selbstverständlich musste die einmal festgelegte Stellung täglich nicht nur genau, sondern ganz, ganz genauso eingehalten werden. Mit Kreidestrichen fixierte ich auf Fußboden und Sofa die Stellung. Oft genügte schon die geringste Veränderung – auch nur im Hintergrund – ein leichtes Senken des Kopfes, eine winzige Drehung der Hand, eine kleine Unachtsamkeit, eine Müdigkeitserscheinung, um Purrmann und seine Bildkonzeption völlig zu verwirren. Hinzu kam Purrmanns übergroße Scheu, das Modell zu korrigieren, sodass die Portraitierten von seiner Verwirrung gar nichts wussten. Sie ahnten nicht, dass höchste Alarmstufe war, wenn der Maler leise zu brummen anfing, oder hüstelte, mit dem Rollstuhl wackelte, oder wenn ihm hintereinander die Pinsel aus den steifen Fingern fielen. Ich hatte sehr bald gelernt, jede seiner Bewegungen, jeden noch so verhaltenen Laut zu deuten. Hörte ich den Brummton, so versuchte ich von meinem Platz aus, das Modell mit Zeichen und Blicken wieder in die richtige Lage zu dirigieren. Das klappte meist gut.

Einmal jedoch portraitierte Purrmann einen älteren Herren, der meiner Meinung nach sehr ruhig dasaß. Purrmann jedoch fand, dass er entsetzlich zappele. Ich versuchte daher, das “Modell” aufmerksam zu machen – umsonst! Schließlich erregte sich Purrmann so sehr, dass die Sitzung abgebrochen wurde und ich schleunigst die Signora um Hilfe holen musste.

Nachdem die Weihnachtsfeiertage mit den vielen Besuchen vorüber waren, ließ Purrmann ein junges Mädchen, eine Tänzerin, aus München kommen, um sie zu malen. Er zahlte ihr Fahrt, Aufenthalt und die Sitzungen und war heilfroh, dass es kein Auftrag war und er diesmal nicht mit der “verfluchten Ähnlichkeit” zu kämpfen hatte. Sie war schon im Sommer einmal da gewesen. Damals wollte Purrmann ein Aktbild von ihr malen. Halb lachend, halb grollend erzählte er mir, warum er gescheitert ist. Ihre Haut sei fein und hellschimmernd gewesen, mit wunderbar zarten Grün- und Violetttönen im Schatten. Und ebenso zart hätte er das Bild angelegt. Doch dann sei sie zum Baden gegangen. Daraufhin habe er schon merklich Ocker und Karmin dem elfenbeinfarbenen Körper beimischen müssen; anderntags sogar schon gebranntes Siena! Die zarten Reflexe seien verschwunden und bevor er vom Elfenbeinweiß zum Elfenbeinschwarz hätte greifen müssen, habe er lieber aufgegeben. Jetzt im Januar war diese Gefahr gering. Das Mädchen saß im leuchtend grünen Kleid und Purrmann begann ein großes Bild. Am zweiten Tag gab's schon einen kleinen Verdruss, weil sie mit schwarzen – und nicht wie anfangs – mit beigen Strümpfen erschienen war. Obwohl er die Beine gar nicht malte, schickte er das Mädchen ins Hotel zurück, weil ihn der neue Farbklang irritierte. Etwas später, als er an ihren Händen malte, fing er leise zu brummen an, weil sie ihre Augen im Atelier herum schweifen ließ. Doch Purrmann malte mit sichtlicher Freude an dem Bild und es gedieh gut – vielleicht ein wenig zu gut. Als Signorina Tilda einmal ins Atelier kam und das Bild stehen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: “Dio mio!” – Und sie hatte Recht; denn das Mädchen, in Wirklichkeit gertenschlank, drohte auf dem Bild das Format zu sprengen. Nachdem er uns der Reihe nach befragt hatte, war Purrmann bereit, einen halben Zentimeter einzurücken. Doch wir ließen ihm nicht eher Ruh', bis links und rechts drei Zentimeter abgezwackt waren. Als die geschehen war, seufzte Purrmann tief auf und meinte: “Alle meine Kollegen malen abstrakt und ich schlage mich noch mit Weibsbildern rum!”

An meine Eltern schrieb ich damals: “Nach 14 Tagen, als das Bild fertig war, ist das Mädchen wieder abgereist. Purrmann und ich sind sehr traurig, dass wir nun wieder allein sind – mit der Kunst.”

Wie kann Purrmann sich so beeinflussen lassen? Purrmann antwortete mir selbst darauf: “Ich bin nie der Kritik und den Einflüssen andere ausgewichen. Ich hätte es als Feigheit und einen Mangel an Ernsthaftigkeit gegen mich selbst betrachtet.”

Wenn Kollegen ihn besuchten, auch wenn sie abstrakt malten wie z. B. Georg Meistermann (der auch eine Wohnung in der Casa Camuzzi gemietet hatte), so war es für Purrmann selbstverständlich, dass er sie um Kritik bat. Ja man kann fast sagen, er zeigte ihnen nur Bilder, wenn sie bereit waren zu kritisieren.

Bilder herzuzeigen um Lob einzuheimsen war Purrmann ein Gräuel und schöne Reden waren ihm immer verdächtig. Aber nicht nur von Fachleuten und Kollegen erwartete er Korrekturen, sondern – ohne Unterschied – auch von Laien. Ob Küchenmädchen, Krankenpflegerin, Gärtner, Famulus oder Schreiner – er war der Ansicht, ein natürlich einfaches Auge sähe oft Dinge, über die man selbst im “künstlerischen Höhenflug” hinwegschwebe… Es war beileibe nicht so, dass Purrmann auf jeden Rat hin zum Pinsel gegriffen hätte. Was er in Wirklichkeit änderte, war meist sehr gering – und ganz wo anders. Zwar hörte er sich jedes Urteil an, prüfte dann aber selbst sehr sorgfältig. Fand er das Urteil berechtigt, versuchte er die Ursache des Mangels zu ergründen, “denn die Leute sehen meist nur die Wirkung, nicht aber deren Ursache.”

Störte jemanden z. B. rechts oben im Hintergrund ein Rot, so konnte man fast sicher sein, dass an diesem Rot nichts geschehen würde. Vielmehr suchte er nach der Ursache, die vielleicht in einem falsch gesetzten Rot links unten im Vordergrund lag und änderte dieses.

Wie es in der Musik ein absolutes Gehör gebe, so in der Malerei ein absolutes “Gesicht”.

Gerade heute, wo viele Maler sich scheuen, Ausstellungen zu besuchen, zumeist aus Angst, sie könnten fremden Einflüssen unterliegen, oder ihre Bildschöpfungen könnten an “Autonomie” einbüßen, erfüllt mich Purrmanns Auffassung mit Bewunderung.

“Matisse suchte geradezu fremde Einflüsse”, erzählte mir Purrmann, “um in der Auseinandersetzung mit ihnen sein Auge zu schulen, seinen Geist zu schärfen und seine Persönlichkeit zu formen”. Und weiter: “1927 in Paris – gingen Matisse und ich wenige Minuten vor der Vernissage seiner großen Ausstellung nochmals durch die Räume. Bei einem Bild fand ich den Hals einer Odaliske allzu dick. Da nahm Matisse sein Taschenmesser heraus und kratzte gut zweifingerbreit vom Hals ab. Das Bild hängt heute – noch mit den deutlichen Kratzspuren – im Musée d'Art Moderne in Paris.

“Der Spiegel” veröffentlichte in seiner Aprilnummer 1962 einen Artikel über Hans Purrmann. Hier steht unter anderem: “…und arbeitet mit Farben und Pinsel, die ihm ein Adlatus, ein junger, deutscher Maler, zureicht.” Dieser Adlatus war ich. Ich war 20 Jahre jung und studierte im 2. Semester Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München. Ich war von Mitte Oktober 1961 bis Anfang Mai 1962 bei Hans Purrmann in Montagnola.

Was waren meine Aufgaben und Pflichten, wie sah mein Tag aus? Mein Tagwerk beginnt um 8:30 Uhr. Ich gehe ins Atelier, reiße Türe und Fenster auf und lüfte kräftig durch. Ich blase den Nachtstaub von den Vasen und entfache den Ofen; denn bis Purrmann kommt muss das Zimmer bacherlwarm sein. Um 9 Uhr hole ich Purrmann in der Casa Camuzzi ab und fahre ihn im Rollstuhl ins Atelier. Ich bringe ihm die Palette und die Pinsel, die nachtsüber im kühlen Nebenraum lagern und rücke die Staffele mit dem Bild an den Rollstuhl heran. Und nun beginnt der Meister zu malen. Selber malen oder lesen darf ich nicht, weil meine Unaufmerksamkeit ihn stören würde. Er muss das Gefühl haben, dass ich ganz für ihn da und jederzeit bereit bin. Er würde es sofort spüren, wenn ich nicht bei der Sache wäre. Die wenigen Zeichnungen, die ich dennoch von Purrmann gemacht habe, sind ganz, ganz heimlich hinter seinem Rücken entstanden. Während Purrmann malt, habe ich ruhig hinter ihm zu sitzen und zuzuschauen. Wenn es vonnöten ist, stelle ich die Staffelei mit dem Bild höher oder tiefer, oder setze auf Wunsch ein frisches Farbbatzerl auf die Palette, oder bündele die Pinsel wieder ordentlich, wenn sie seiner ungelenken Hand entglitten sind. Wir sprechen wenig. Nur sein lautes Schnaufen unterbricht die Stille, weil ihn das Malen doch sehr anstrengt.

Wenn die Glocken von San Abbondio den Mittag einläuten, schiebe ich das Bild mit der Staffelei zurück. Wir sitzen noch ein Weilchen davor und betrachten es und besprechen, was besser geworden ist und wo “wir” am Nachmittag weitermalen müssen. “Was meinen's?” – fragt er mich dann jedes Mal – und er will es wirklich wissen.

Habe ich Purrmann mittags in die Wohnung gefahren, kehre ich ins Atelier zurück. Ich lüfte wieder kräftig durch, wasche die Pinsel aus und säubere die Palette. Dabei kommen mir immer allerhand Gedanken. Man müsste einmal eine große Kunstausstellung machen, wo aber keine Bilder an den Wänden hängen, sondern nur die Paletten der Künstler und ihre Pinsel. Sind doch die Paletten die kleinen Zaubertischlein, auf denen die Künstler ihre Bilder zubereiten.

Auf Purrmanns Palette scharen sich sechsundfünfzig kleine Farbbatzerl, schön geordnet um seinen Daumen. Besonders zahlreich sind die Rot- und Grüntöne.

In seinem vereinfachten Bericht im “Doerner” erwähnt Purrmann zwar nur 19 Farben, verschweigt uns aber die vielen feinen Zwischenstufen, die seine Palette so reich machen. selbstverständlich setzen wir die Palette nicht täglich neu auf; das geschieht so alle eineinhalb Wochen. Doch um das Regiment sauber zu halten, muss ich täglich zweimal jede Farbe von dem schmutzigen Hof befreien, der beim Malen und Mischen entstanden ist. Überhaupt legt Purrmann sehr großen Wert auf Sauberkeit und Sorgfalt. Nicht nur seine Bilder zeichnen sich darin aus, sondern seine ganze Maltechnik. Wohl kaum ein Maler wählt heute noch so bedachtsam Leinwände, Pinsel und Farben aus und nur wenige verstehen noch so vorsichtig mit Firnissen umzugehen wie er. Bevor er ein neues Bild anfängt, reibt er die Leinwand mit einer rohen Kartoffel ab. Dann legt er die Komposition an. man kann es kaum ein Malen nennen; vielmehr tastet er mit dem Pinsel ganz behutsam die Leinwand ab und macht da und dort einen Punkt, so als stecke er das Feld ab, das er nun bearbeiten will. Noch nach zwei Stunden erkennt man auf der Leinwand nur einige hauchzarte Linien und Punkte. In Wirklichkeit ist damit aber schon das ganze spätere Bild festgelegt. Jedes Detail ist ihm zunächst unwichtig, sein Augenmerk gilt nur dem “Ensemble”. Auch in der kleinsten Skizze ist er bemüht, das Ensemble herzustellen. So kommt es, dass Purrmanns Bilder in jedem Zustand in sich abgerundet und “fertig” erscheinen. Nach einer zweistündigen Mittagspause malt Purrmann weiter. Erst wenn die Dämmerung herabsinkt und ihm den Pinsel aus der Hand nimmt, fahren wir wieder in die Casa Camuzzi zurück. Damit endet auch mein Tagwerk.

So vergehen die Tage, die Wochen, die Monate. Purrmann malt tagaus, tagein – auch Samstag und Sonntag. Und da die Tage alle gleich sind, scheint die Zeit still zu stehen. Für ihn ist malen leben und leben malen.

Viele seiner schönsten Bilder sind auf Ischia entstanden. “Das müssen für Sie doch glückliche Tage gewesen sein!”, sagte ich einmal. “Glücklich” – erwiderte Purrmann – “Was meinen Sie damit? Ich hab halt gearbeitet, während meine Kollegen sich sonnten und im Meer badeten. Wenn sie bis tief in die Nacht in den Kneipen beim Wein saßen und über die Kunst philosophierten, hab ich geschlafen. Und während ich in aller Früh schon mit meiner Staffelei zwischen dampfenden Olivenbäumen saß und malte, schliefen meine Kollegen. Die tägliche Arbeit, der tägliche Quadratmeter Leinwand – so sind meine Bilder entstanden. Ja – es waren glückliche Tage!”

Die einzige Unterbrechung sind die Ärzte (er konsultiert drei und sie können, glaube ich, recht gut von ihm leben.) – und die Besuche. Auf beide ist Purrmann schlecht zu sprechen. Auf die einen, weil sie ihn quälen, auf die anderen, weil sie ihn beim Malen stören. Und doch ist er froh, dass die einen kommen, weil sie seine Schmerzen lindern und er wäre unglücklich, kämen nicht auch Besucher.

Man kann die Besucher in 4 Gruppen einteilen: die erste und weitaus größte Gruppe bekommt Purrmann gar nicht zu Gesicht; sie wird von Signore Tilde erfolgreich an der Haustür abgewimmelt. Die zweite Gruppe sind die lieben Verwandten: “Seltsam, wer heutigentags alles mit mir verwandt sein will!” – so Purrmann. Der dritten Gruppe gehören die Privatsammler, die Galeriebesitzer und Museumsdirektoren, die Kunstkritiker, Kunsthistoriker und Zeitungsleute an. Soweit sie nicht zur ersten Gruppe gehören, werden sie freundlich empfangen und bewirtet. Der vierten Gruppe aber stehen Tür und Tor offen es sind Purrmanns Freunde und Kollegen.

Besuche brachten auch für mich Hochbetrieb, weil jeder Bilder sehen wollte, die ich geduldig stundenlang aus den Regalen im Depot zu holen und zu präsentieren hatte. Dabei wurde viel geredet, diskutiert, beschwiegen, bewundert und beseufzt. Und wie ein Hühnlein emsig Körnlein pickt, so war ich als junger Student begierig, von den Worten und Gedanken aufzupicken, was immer ich vermochte.

Das Amüsante an den Besuchern war aber, dass sich um jeden ein Histörchen rankte. War der Bildhauer Gerhard Marcks zu erwarten, musste Signora Tilda schnell wieder die kleine Plastik, die er Purrmann einmal geschenkt hatte, hervorkramen und auf das Nachtkästchen stellen. Zur selben Stunde, da er abreiste, wurde sie wieder im Schrank verstaut. Kam Adolf Hartmann, so musste ich genau aufpassen, dass er ohne Zigarre das Atelier betrat, weil Purrmann absolut keinen Rauch vertragen konnte. War aber Thomas Niederreuther in Sicht, so musste ich schleunigst Palette und Pinsel wegräumen, weil Purrmann immer befürchtete, er würde im Überschwang in seine Bilder hineinmalen.

Mittags fuhren wir dann meist zusammen in ein schönes Ristorante in der Nähe. Purrmann hat sich eigens einen VW-Bus so umbauen lassen, dass ich ihn mitsamt dem Rollstuhl auf Schienen hinein schieben und festschrauben konnte.

Bei Rebhühnern, Krebslein und Rotwein ging's lustig und laut her und Purrmann übertraf alle sowohl im Zupacken wie im Erzählen. Und musste er niesen – was häufig vorkam – dann ging jeder mit seinem Teller in Deckung.

Als der Maler Ernst Schumacher einmal Purrmann besuchte, stöberten wir gemeinsam den Abstellraum des Ateliers durch. Stöße von Skizzen, Zeichnungen, Aquarellen, und Ölbildern kamen ans Tageslicht – aus Purrmanns Jahren bei Henri Matisse, Motive aus Langenargen am Bodensee, aus Rom, aus Florenz und von Ischia. Die beiden Freunde wählten kritisch aus und was vor beiden nicht mehr bestand, musste ich vor ihren Augen zerschneiden und zerreißen. Riss ich ein Bild nicht klein genug in Stücke, so half Schumacher eigenhändig nach. Wie gerne hätte ich mir ein “Stückchen Purrmann” aufgehoben und in Ehren gehalten! Doch nicht genug: ich musste alles verbrennen und vernichten. Wohl kaum jemand wird sich, wenn auch schmerzlich “rühmen” können, er habe so an die 30 echte “Purrmanns” zerrissen und verbrannt…

Neben der Malerei ist Purrmann von einer wahren Sammelleidenschaft besessen. Nicht weniger als seine Sammelwut rühmt man auch seine Kennerschaft. Alle Kunst- und Antiquitätenhändler von Lugano und Locarno kommen zuerst zu Purrmann, wenn sie etwas Besonderes haben. Nur selten aber können sie seine hohen Ansprüche und seinen erlesenen Geschmack befriedigen. Viele wenden sich auch um Expertisen an ihn, die er bereitwillig ausstellt.

Seine Wohnung und sein Atelier quellen schier über von all den Kostbarkeiten, die er in seinem langen Leben zusammengetragen hat. In seinem Schlafzimmer gibt es an den Wänden kein freies Fleckchen mehr. Sein Bett ist umgeben mit den wunderbarsten Dingen ferner Länder und vergangener Kulturen. Dazwischen hängt still ein Aquarell von Paul Cezanne. Purrmann entschuldigt sich jedes Mal, dass alles so rumliege, aber dann erzählt er lachend, wie schon seine Frau mit seiner Sammelleidenschaft zu kämpfen hatte: “einmal hat mich meine Frau zum Salat kaufen in die Stadt geschickt. Ich bin ohne Salat, aber mit einem alten Teppich untern Arm heimgekommen.”

Meine Aufgabe bei Hans Purrmann war dienend und helfend. Für mich jedoch wurde sie zu einer ganz besonderen Lehrzeit. Er öffnete mir Herz und Auge für so viel Schönes – und ließ mich ein wenig von der Ernsthaftigkeit und Lauterkeit der Kunst ahnen. Hans Purrmann war mir ein Lehrmeister – ohne viele und große Worte.